Evozierte Potentiale

Als evozierte Potentiale (lateinisch evocare „herbeirufen”) wird eine neurologische Untersuchungsmethode bezeichnet, mit deren Hilfe die Leitfähigkeit und damit die Funktionsfähigkeit von Nervenbahnen getestet werden kann. Das Prinzip beruht auf der Reizung eines Sinnesorgans oder peripheren Nervs und der anschließenden Beobachtung des dadurch ausgelösten elektrischen Potentials in verarbeitenden Regionen des Nervensystems.

Jeder Sinnesreiz löst in den sensorischen Arealen des Gehirns minimale elektrische Potentialänderungen aus. Um die evozierte Aktivität messen und darstellen zu können, wird eine Mittelungstechnik verwendet, bei der die Reizantworten vieler Reize summiert werden. Durch die wiederholte Darbietung eines Reizes und die Mittelung des nachfolgenden EEG-Signals strebt die reizunabhängige Aktivität gegen Null, während das reizbezogene evozierte Potential aufsummiert und somit auswertbar wird. Bei einem durch Lichtblitze ausgelösten Potential genügen etwa 50 Reize, während zur Messung der frühen akustischen Hirnstammpotentiale etwa 1.000 bis 2.000 Reize dargeboten werden müssen.

Beispiele für von uns angewendete evozierte Potentiale sind:

    • VEP - Visuell evozierte Potentiale ermöglichen eine Beurteilung des Sehnerven und der Sehbahn, vor allem in der Diagnostik der Optikus- neuritis bei Multipler Sklerose. Bei der Untersuchung betrachtet der Patient auf einem Bildschirm ein digitales Schachbrettmuster, das in Sekundenabständen seine Farben wechselt (schwarz wird zu weiß und umgekehrt). Gemessen wird die Geschwindigkeit der Reizübertragung vom Reiz bis zur Wahrnehmungsverarbeitung im Gehirn.
    • (F)AEP - (Frühe) akustisch evozierte Potentiale ermöglichen eine Beurteilung der zentralen und peripheren Hörbahn und werden bei Erkrankungen des Hörnerven sowie des Hirnstamms eingesetzt. Den Patienten werden über einen Kopfhörer Töne vorgespielt. Gemessen wird die Geschwindigkeit der Reizübertragung im akustischen System des Hirnstamms.
    • SEP - Somatisch evozierte Potentiale (SSEP = Somatosensibel evozierte Potentiale) ermöglichen eine Beurteilung der zentralen somatosensiblen Leitungsbahn und peripherer sensibler Nerven. Über eine Stimulationselektrode in der Nähe eines sensiblen Nervs werden wiederholte elektrische Reize gesetzt. Typische Reizorte sind der Nervus tibialis am Bein oder der Nervus medianus an der Hand, aber auch der Gesichtsnerv. Gemessen wird die Geschwindigkeit der Reizübertragung bis zum Gehirn oder Rückenmark. Diese Methode wird bei sensiblen Störungen eingesetzt.
    • MEP/TMS - Motorisch evozierte Potentiale (Transkranielle Magnetstimulation) dienen in der Diagnostik vor allem der Bestimmung des Funktionszustands des motorischen Systems, das für die Ausführung von Willkürbewegungen notwendig ist. Sie werden bei Erkrankungen des motorischen Systems, wie zum Beispiel der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und der Multiplen Sklerose (MS), eingesetzt. Über einen Magnetstimulator wird ein kurzer Magnetimpuls über eine Spule am Kopf und an der Wirbelsäule gegeben. Dieser Magnetimpuls löst im Gehirn oder an den wirbelsäulennahen Nerven einen Impuls aus, der zu einer motorischen Antwort in einem Muskel führt. Diese Antwort wird über Klebeelektroden aufgezeichnet. Die Geschwindigkeit der Reizübertragung wird gemessen. Diese Untersuchung darf bei Trägern und Trägerinnen von Herz- oder Hirnschrittmachern nicht angewendet werden.